Blut ohne Boden – Boden ohne Blut

Blut ohne Boden – Boden ohne Blut

Eine Filmreihe zu einem anderen Migrationsbegriff, zusammengestellt von Slavoj Žižek.

Eröffnungsvortrag von Slavoj Žižek am 09.06.2004, 19 Uhr

»Mit dem Judentum entsteht ein radikal neues Gesellschaftsverständnis, nämlich von einer Gesellschaft, die nicht mehr auf einer Teilhabe an gemeinsamen Wurzeln gründet: »Jedes Wort ist eine Entwurzelung. Die Konstituierung einer realen Gesellschaft ist eine Entwurzelung – das Ende einer Existenz, in der das »Zuhausesein« absolut ist und alles aus dem Inneren kommt. Heidentum schlägt Wurzeln […] Heidentum ist der örtliche Geist: Nationalismus in Hinsicht auf seine Grausamkeit und Erbarmungslosigkeit […] Eine Menschheit mit Wurzeln, die Gott inwendig, mit dem aus der Erde aufsteigenden Saft besitzt, ist ein Urwald oder eine vormenschliche Menschheit.« (Emmanuel Levinas)

Der auf diese Sicht gegründete Gegensatz – »gutes« nomadisches, wanderndes, »deterritorialisiertes« Subjekt versus »böses«, auf seine ethnisch-religiös-sexuelle Identität festgelegtes Subjekt – beherrscht unsere ideologische Sphäre. Doch die Hauptbotschaft unserer spätkapitalistischen Erfahrung besagt, dass wir solchen Koordinaten nicht einfach trauen dürfen. Denn erstlich und zuvorderst ist eine radikale »Deterritorialisierung« von Subjektivität, in der selbst die innersten Kennzeichen unserer Identität »in dünne Luft aufgehen« (Marx), das elementare Merkmal des heutigen globalen Kapitalismus, der sich vollends die Logik des ziellosen Überschusses zu eigen gemacht hat.

Dieser Sachverhalt nötigt uns, die modische Feier der nomadischen oder »hybriden« Subjektivität in Frage zu stellen: Einen armen Bauern, der aufgrund eines lokalen ethnischen Krieges oder einer verheerenden Wirtschaftskrise zur Emigration gezwungen ist, mit demselben Begriff zu belegen wie einen Angehörigen der »symbolischen Klasse« (Akademiker, Journalist, Künstler, Kunstmanager), der ständig zwischen Kulturhauptstädten hin- und herreist, läuft auf dieselbe Obszönität hinaus wie die Gleichsetzung von Hungersnot und Schlankheitsdiät. Unsere erste ethisch-politische Pflicht besteht folglich darin, die Themen komplexer anzugehen und den Begriff der »Migration« einer Art Spektralanalyse zu unterziehen, in der wir zwischen gegensätzlichen, von emanzipativen bis zu versklavenden Tendenzen zu unterscheiden haben.

Slavoj Žižek (*1949) Psychoanalytiker, Philosoph und Kulturkritiker, lebt und arbeitet in Ljubljana.

Lamerica (Gianni Amelio) I 1994, 115 min, DF
Der Film schlechthin zur Abwanderungskrise, der auf die Auflösung des Real Existierenden Sozialismus folgte: In einer Art Benjaminschen Dialektik im Suspens überlappt sich die heutige Sehnsucht nach dem gelobten Land Italien mit der italienischen Sehnsucht nach Amerika.

Sansho Dayú (Kenji Mizoguchi) J 1954, 119 min, OmdU
Diese im mittelalterlichen Japan angesiedelte Geschichte von einer durch den Krieg auseinandergerissenen Adelsfamilie und von der wechselseitigen Sehnsucht zwischen Sohn und Mutter ist ein Melodram im erhabensten und edelsten Sinn des Worts: die Geschichte einer absoluten Familienbindung, die alle Verwerfungen und Trennungen überdauert.

Watch on the Rhine (Herman Shumlin) USA 1943, 114 min, OF
Die radikalste Auseinandersetzung Hollywoods mit den Grenzen des liberalen Humanitarismus: Vor dem Hintergrund des Nazismus nimmt eine liberale amerikanische Familie großherzig entfernte Verwandte aus Europa auf, sieht sich dann aber zu dem weitaus radikaleren Schritt gezwungen, sich an einem notwendigen Töten zu beteiligen.

Das blaue Licht (Leni Riefenstahl) D 1932, 72 min, OF
Ist Junta, das einzelgängerische wilde Bergmädchen, nicht eine Verfemte, die fast einem von den Dorfbewohnern angezettelten Pogrom zum Opfer fällt – einem Pogrom, das uns an die antisemitischen Pogrome erinnern muss? Vielleicht ist es kein Zufall, dass Riefenstahls damaliger Liebhaber Bela Balasy, der das Drehbuch mitverfasste, Marxist war.

Viaggio in Italia (Roberto Rossellini) I 1953, 82 min, OmdU
Die Ruinen aus Italiens Vergangenheit bilden den Hintergrund für ein reiches amerikanisches Paar in der Ehekrise: Dabei behalten sie ihre tiefe Zweideutigkeit, sodass die stoffliche Präsenz der Ruinen ständig ihre »offenkundige« metaphorische Bedeutung (als Symbol für die ruinierte Beziehung des Paares) untergräbt.

Das Schweigen (Ingmar Bergman) S 1963, 91 min, DF
Bergmans wahres Meisterwerk: die Eisenbahnreise zweier Schwestern und eines kleinen Sohns, mit Aufenthalt in einem nicht näher beschriebenen osteuropäischen Land, dessen Atmosphäre sinnlichen Zerfalls und sexueller Verderbtheit eine perfekte »objektive Entsprechung« zum Unbehagen am modernen Leben bietet.

Hiroshima mon amour (Alain Resnais) F/J 1959, 89 min, OmeU
Die Liebesgeschichte eines aus seinen Lebenszusammenhängen gerissenen Paares im Hiroshima der 50er Jahre (eine Französin, auf der Flucht vor dem Trauma ihres deutschen Soldatenliebhabers, ein vom Trauma Hiroshimas gezeichneter Japaner) entfaltet das Axiom der Liebe als magisches Geschehen, das selbst die verheerendsten historischen Traumata überwindet.

Der siebte Kontinent (Michael Haneke) A 1989, 107 min, OF
Ist die letzthaftige »Migration« nicht die Reise in den Tod selbst? Haneke inszeniert dies umweglos als die geplante Reise einer Familie, deren Mitglieder entscheiden, gemeinsam Selbstmord zu begehen: kein Pathos, einfach eine kühle rationale Umsetzung des Beschlusses.